Heilige Kühe
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Edition Schrittmacher Band 40
Heilige Kühe
Erzählungen von Dietmar Gaumann
160 Seiten, 12,4 x 19,2 cm, Broschur
ISBN: 978-3-89801-240-9
Preis: 12,00 EUR
Der Autor:
Dietmar Gaumann, geboren 1969, aufgewachsen im Westerwald. Er studierte Filmwissenschaft und Amerikanistik, arbeitete als Buchhändler und freier Lektor und ist seit etlichen Jahren Mitarbeiter des Literaturbüros Mainz. Seine Storys erschienen in Zeitschriften und Anthologien sowie in den eigenen Erzählungsbänden »Komplizen« und »Heilige Kühe«, beide im Rhein-Mosel-Verlag.
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Inhalt:
Im Westerwald ist nichts los? Von wegen! Im kleinen Dorf Krotzenroth mutiert ein Junge zum Actionheld, gerät eine Putzhilfe in eine seltsame Beziehung zu ihrem Nachbarn und ein Schnitzelliebhaber läuft an einem heißen Sommertag Amok.
Nein, beschaulich geht es für die Menschen in »Heilige Kühe« wirklich nicht zu. Egal, ob sie im Westerwald, in Schleswig-Holstein oder im amerikanischen Süden leben. Ständig geraten sie in verzwickte Situationen und müssen sich entscheiden. Zieht man weg oder bleibt man? Springt man vom Zehner oder lässt man es sein? Und wie genau überfällt man eigentlich eine Tankstelle? »Heilige Kühe« versammelt zwölf Geschichten vom wilden Landleben, erzählt mit lakonischem Humor und leiser Melancholie.
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Leseprobe
Mein Name ist Snake
Norbert baute sich breitbeinig vor uns auf, hakte die Daumen in die Gürtelschlaufen und sagte: »Mein Name ist Snake.«
»Wer?«, fragte ich mit zugekniffenen Augen. Hinter
Norberts Rücken hing die Sonne bereits tief über den Dorfdächern.
»Snake. Wie englisch Schlange.« Jens saß neben mir auf der Bank der Bushaltestelle und kratzte an einem seiner Pickel.
»Was du nicht sagst.« Zur Strafe für die Klugscheißerei knuffte ich Jens gegen den Oberschenkel.
»Snake Plissken«, sagte Norbert. »Die Klapperschlange.«
»Plissken? Was is’n das für’n Name?«
»Klapperschlangen gibt’s in Europa nicht, nur in Amerika.« Jens schob sein kantiges Brillengestell die Nase hoch.
»Sag mal, hast du heute Nacht auf ’nem Was-ist-Was-Buch geschlafen?«
»Ich mein ja nur.« Jens wandte sich schmollend von mir ab und sagte zu Norbert: »Und was sollen die Klamotten?«
Gute Frage. Norbert trug eine schwarze Lederjacke, die vermutlich seinem Bruder Tillmann gehörte und ihm viel zu groß war. Dazu, mitten im Sommer, ein Paar Moonboots, in die er notdürftig die Beine seiner Jeans gestopft hatte. Aber das war nicht alles. Links neben seiner Nase saß eine schwarze Augen-
klappe.
»Bist du ein Pirat oder so?«, fragte Jens.
»Pirat. Pfff.« Norbert zog aus der Jackentasche eine Schachtel Zigaretten und zündete sich eine an. Ich hatte ihn noch nie rauchen sehen, aber vielleicht erklärte es das heisere Flüstern, mit dem er auf einmal sprach.
»Also, was dann?«, fragte ich.
Norbert grinste.
»Rück schon raus. Ich muss gleich heim.«
Norbert sog an der Zigarette, hustete und sagte:
»Ich werd euch zeigen, wer Snake ist.«
Dienstag rief Norbert endlich an.
»Die Luft ist rein«, flüsterte er wieder mit der heiseren Stimme. »Vater schläft. Komm rüber.«
Norbert und ich wohnten in derselben Straße am Rande des Dorfs, die an der Magnetfabrik vorbei Richtung Truppenübungsplatz führte. Norberts Vater arbeitete in der Fabrik, so wie Norberts Bruder Tillmann, bis der vor ein paar Wochen, kurz nach seinem 18. Geburtstag, ohne ein Wort verschwunden war.
Ich ging ums Haus und klopfte an die Terrassentür. Norbert kniete im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Als er mich hörte, legte er beschwichtigend den Zeigefinger an die Lippen und öffnete die Tür.
»Schon wieder die Augenklappe«, stöhnte ich und versuchte danach zu greifen.
Mit einem angedeuteten Karateschlag wehrte Norbert mich ab: »Keine Augenklappe, kein Snake.«
»Und wer ist jetzt Snake?«
Norbert nahm eine Videokassette vom Couchtisch, auf dem leere Bierflaschen und ein voller Aschenbecher standen, und hielt sie wie eine Trophäe in die Höhe.
»Das ist Snake.«
»Die Klapperschlange«, las ich auf dem Etikett. »Ach so, ein Film«, sagte ich betont lässig.
Norbert kniete sich vor den Fernseher und schob die Kassette in den Videorekorder, den sein Vater vor einigen Wochen gekauft hatte. Auf dem Fernseher stand ein gerahmtes Familienfoto: Norberts Mutter war darauf zu sehen, wie sie ihre Kinder – Monika, Tillmann und Norbert – mit den Armen umschlungen hielt. Der Vater stand daneben, in einem schlechtsitzenden Anzug, und hatte den Blick abgewandt.
»Geht los«, sagte Norbert. Der Bildschirm färbte sich schwarz und eine unheilschwangere Synthesizermusik setzte ein. Norbert drehte sich zu mir um. Sein Gesicht war vor Aufregung knallrot.
Aber erst mal passierte nichts Aufregendes – fand ich jedenfalls. Der Film war verdammt dunkel und die Kassette so oft abgespielt worden, dass grieselige Streifen über den Bildschirm krochen.
»Ist das Snake?«, fragte ich, als ein Mann mit einem habichtartigen Gesicht und Glatze im Bild auftauchte.
»Shh«, machte Norbert händewedelnd. Er hockte so dicht vor dem Fernseher, als wolle er hineinkriechen.
»Da!« Er deutete auf den Bildschirm. »Das ist er.«
Also das war Snake. Ein Typ in einer abgewetzten Lederjacke, einer Hose mit aufgedruckten Blitzen und hohen Stiefeln, der gerade in Handschellen über ein Flugfeld geführt wurde. Norbert sagte mit leuchtenden Augen: »Ist er nicht cool?«
Jens kam, als der Film bereits eine halbe Stunde lief. Norbert und ich starrten so gebannt auf den Fernseher, dass wir sein Klopfen erst nicht bemerkten.
»Hab ich viel verpasst?«, fragte er außer Atem, als ich ihn reinließ.
Norbert hockte jetzt auf der Kante des Sessels, der dem Fernseher am nächsten stand, und signalisierte Jens ruhig zu sein. Jens setzte sich neben mich auf die Couch.
»Wieso ist da alles so dunkel?«, flüsterte er mir zu.
»Weil das ein Gefängnis ist.«
»Wie, die Stadt da?«
»Ganz New York«, zischte Norbert. »Und jetzt Klappe halten.«
»Der spielt in der Zukunft«, sagte ich, »1997.« Jens zog die Augenbrauen hoch.
»Und wer ist Snake?«
»Wer wohl? Der mit der Augenklappe.«
...
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